Betrachtungen über die SPD-Vorleute seit dem Zweiten Weltkrieg
Mit dem im Dezember 2023 auf dem SPD-Bundesparteitag bestätigten Duo Saskia Esken und Lars Klingbeil wird die älteste deutschen Partei nach 1945 zum dritten Mal von einer Doppelspitze geleitet. Von 2019 bis 2021 waren dies nach einem aufwändigen Verfahren einer Mitgliederbefragung ermittelten und vom SPD-Bundesparteitag 2019 in Berlin bestätigten Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans. Seit dem Dezember 2021 wegen der Corona-Pandemie als hybride Veranstaltung durchgeführte SPD-Versammlung die jetzt im Dezember 2023 bestätigte Doppelspitze. In einem zum SPD-Parteitag 2023 vom „Focus“ publizierten Artikel aus der Feder des früheren Leiters der Berliner Redaktion der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, Günter Bannas, wird eine Typologie der SPD-Chefs seit dem Zweiten Weltkrieg veröffentlicht.
Sechs SPD-Vorsitzende waren in Lippstadt
Der für sein Lebenswerk ausgezeichnete Journalist zeigt in seinem Beitrag auf, dass es die SPD nach 1945 bis 2023 auf insgesamt 17 Parteivorsitzende gebracht hat. Von ihnen waren mit Kurt Schumacher (1950), Willy Brandt (1976), Hans-Jochen Vogel (1990), Franz Müntefering (2004), Kurt Beck (2006) und Saskia Esken (2022) sechs während ihrer Amtszeiten als SPD-Vorleute zu Terminen in Lippstadt. Vor ihren Berufungen in die höchste SPD-Funktion waren Gerhard Schröder (SPD-Vorsitzender 1999 bis 2004) in 1979, Andrea Nahles (SPD-Chefin 2018 bis 2019) in 2009 und Lars Klingbeil (SPD-Vormann seit 2021) in 2017 in der größten Stadt des Kreises zu Besuch. Gleich zweimal war Rudolf Scharping nach seiner Abwahl als SPD-Chef (1993 bis 1995) in 1998 und 1999 sowie Martin Schulz nach seinem Abschied vom Vorsitz (2017 bis 2018) in 2019 nach Lippstadt gekommen.
Viele Wechsel seit 1987 bei der SPD
Mit dem Vergleich von 17 SPD-Vorsitzenden bei zehn aus der CDU in der Bundesrepublik Deutschland werden auch die vielen SPD-Wechsel seit dem Rücktritt von Willy Brandt (1913-1992) im März 1987 deutlich. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die Sozialdemokratie nach dem Zweiten Weltkrieg mit Kurt Schumacher (1895-1952), Erich Ollenhauer (1901-1963) und Willy Brandt lediglich drei Parteivorsitzende. Indessen übten für die CDU seit ihrer Gründung im Sommer 1945 bis ins Frühjahr 1987 bereits fünf Männer das Spitzenamt aus.
Unterschiedliche Charaktere
Von Günter Bannas werden in seinem Text unter anderem die unterschiedlichen Charaktere der SPD-Vorsitzenden geschildert. So auch, wie sie ihre Zumutungen durchgesetzt haben. Kurt Schumacher, der erste Vorsitzende beim Neuaufbau der staatlichen Ordnung in Westdeutschland, und der wegen seiner unfassbaren Verbindung zum russischen Machthaber im Kreml in der SPD verständlich ins Abseits geratene Gerhard Schröder mit der von ihm durchgedrückten Agenda 2010. Ob jedoch die Bewertungen über Hans-Jochen Vogel in der Nachfolge von Willy Brandt mit „pedantisch und penibel“ sowie Sigmar Gabriel, der von 2009 bis 2017 der SPD vorstand und den Ausgleich mit den Gewerkschaften wieder auf den Weg brachte, mit „unstet und zögerlich“ die richtigen Vokabeln sind, lässt sich trefflich streiten. Von allen SPD-Häuptlingen nach 1945 ist Franz Müntefering, der nach seinen Worten 2004 den SPD-Vorsitz als „das schönste Amt neben Papst“ bezeichnet hat und für zwei kurze Phasen (2014 bis 2015 und 2018 bis 2019) das Chefbüro im Willy-Brandt-Haus bezogen hatte, der in Lippstadt bekannteste. Unzählige Verpflichtungen hat der aus dem Sauerland stammende und inzwischen 83jährige Sozialdemokrat in seiner bemerkenswerten Laufbahn in der heimischen Region absolviert. Zuletzt nach seinem Ausscheiden aus dem Bundestag im Herbst 2013 beim 25jährigen Jubiläum des damaligen SPD-Ortsvereins Overhagen im März 2015 sowie als Moderator einer gut besuchten Buchbesprechung mit dem einstigen „Zeit“-Chefkorrespondenten Gunter Hofmann über dessen „Geschichte einer schwierigen Freundschaft“ zwischen Willy Brandt und Helmut Schmidt in der Thomas-Valentin-Stadtbücherei im September 2016.
Belastende Kontroversen
Da Sigmar Gabriel sowohl 2013 als auch 2017 nicht Kanzlerkandidat werden wollte, gab er im Frühjahr 2017 nach siebeneinhalb Jahren den Vorsitz an Martin Schulz weiter. Nach dem anfänglichen Hype („Schulz-Zug“) war für ihn aufgrund des mauen SPD-Bundestagsergebnis 2017 von 20,5 Prozent und seinem ungeschickten Verhalten bei der Bildung der vorerst letzten Koalition mit den Unionsparteien und der Sozialdemokratie die Zeit als SPD-Vorsitzender vorbei. Ebenso hatte Andrea Nahles, seine Nachfolgerin und erste Frau an der Spitze jener Partei, die als einzige noch vor den Weltkriegen gegründet wurde, trotz eines aus den Juso-Tagen vorhandenen Netzwerks kein Glück. Infolge des desaströsen SPD-Resultats von 15,8 Prozent bei der Europawahl 2019 legte sie nach einem Jahr ihr Parteiamt gemeinsam mit dem Vorsitz der SPD-Bundestagsfraktion nieder. Die fortwährenden Veränderungen an der Spitze der Sozialdemokratie seit 1987 lösten oftmals öffentliche Personalkontroversen aus und waren meist für ihr Erscheinungsbild belastend.
Hans Zaremba