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Die vergessenen Nachbarn – wer kennt sie noch

Hans Zaremba über ein Buch zum jüdischen Leben in Wadersloh

85 Jahre sind vergangen, dass in ganz Deutschland jüdische Geschäfte und Einrichtungen verwüstet wurden. Die Reichspogromnacht zählt zu den dunkelsten Kapiteln der deutschen Geschichte und fand im November 1938 auch in Wadersloh statt. An die Übergriffe der Nazi-Schergen in der sogenannten Kristallnacht wurde anlässlich der bundesweiten Gedenkveranstaltungen ebenfalls in einer Zusammenkunft in dem Dorf am Rande des Münsterlandes erinnert.

Erinnerung an einem vom Terror der braunen Diktatur ermordeten Wadersloher:
Julius Silberberg, der im Alter von nur 13 Jahren aus Wadersloh verschleppt und im Umfeld von Riga erschossen wurde.
Foto: Hans Zaremba

Willkürherrschaft

Dabei erfolgten Betrachtungen aus dem von Hans-Josef Kellner (1944-2017) verfassten Buch „Die vergessenen Nachbarn – wer kennt sie noch“. In der seiner in 2012 verlegten Publikation hatte der langjährige Vorsitzende des Heimatvereins und frühere stellvertretende Schulleiter des örtlichen Gymnasiums, Johanneum, hervor gehoben, dass die jüdischen Familien in Wadersloh bis zur Hitler-Diktatur vollkommen zur örtlichen Gemeinschaft gehörten. Für „Lippstadt am Sonntag“ gleichfalls ein Anlass, einen Blick in das 464 umfassende zeitgeschichtliche Werk des Autors zahlreicher Beiträge zur Ortsgeschichte zu werfen. Bereits im ersten Satz seines Vorwortes „Die Geschichte der jüdischen Familien Waderslohs ist kein erratischer Block, sondern ein Teil der Geschichte des Dorfes, verwoben in die lokalen und sozialen Strukturen des Dorfes“ beschreibt der Heimatchronist die bis zum Aufkommen der braunen Willkürherrschaft bestehende funktionierende Integration der jüdischen Bevölkerung in Wadersloh. Das habe ihr Engagement in den Zusammenschlüssen der Schützen und des Sports sowie im Männergesangverein unterstrichen. Kellner folgert daraus: „Die jüdische Geschichte in Wadersloh war eigentlich eine Erfolgsgeschichte.“ Sie hatte ihren Höhepunkt in 1925 erreicht, als Louis Gutmann, der in der Überwasserstraße ein Geschäft betrieb, Schützenkönig wurde. Diese Ehre verschonte den Kaufmann jedoch nicht vor den Repressalien der Nazis mit ihren wirtschaftlichen Verdrängungen der Juden, die in Wadersloh nach den Belegen des Verfassers des Werks über das jüdische Leben in dem westfälischen Flecken ab 1935 fortwährend spürbarer wurden.

Verfolgungspolitik

Der Druck der brauen Tyrannei veranlasste die Familie Gutmann und andere jüdische Bürger zur Emigration in die USA. Sie waren spätestens „nach den Geschehnissen am 9. November 1938 davon überzeugt, dass es in Deutschland kein Bleiben mehr gab“, weil, so Kellner, „zwischen der zentralen und der lokalen Verfolgungspolitik eine Wechselwirkung“ gegeben war. Das System bestand darin, dass sich die Parteiführung bei der Zielrichtung ihrer perfiden Maßnahmen auf die Mitläufer vor Ort verlassen konnte. Aus Deutschland wegzugehen, war aber nach 1933 kein leichtes Unterfangen. Die meisten Länder verlangten für die Aufnahme von Einwanderern eine Bezahlung in Golddiskont, wobei der Kauf von Devisen vom Reich mit Verlusten für die Verkäufer zwischen 60 und 96 Prozent erheblich erschwert wurde. Jene Wadersloher Mitbürger, die keine Gelegenheit und Mittel für eine Auswanderung hatten, waren nach dem Emigrations-Verbot durch den Reichsführer SS vom 23. Oktober 1941 den Häschern des Regime schutzlos ausgeliefert und wurden in die Konzentrationslager verbannt. Unter ihnen auch Julius Silberberg (1928-1941), der als jüngstes Wadersloher Opfer des Holocausts gemeinsam mit seinen Eltern Ludwig und Martha Silberberg nach Riga in Lettland deportiert und im dortigen Umfeld ermordet wurde. Ihm ist heute in der Nähe des jüdischen Friedhofs in Wadersloh mit dem Julius-Silberberg-Weg ein besonderes Gedenken gewidmet. Ebenso gedachten die Wadersloher Schützen ihm beim Hochfest im Juni 2023 mit einer viel beachteten Rede ihres Offiziers der Jubelkompanie, Mario Wachsmann, mit etlichen Belegstellen aus der Kellner-Schrift. In dieser wird Hans Gutmann, Sohn von Louis Gutmann und durch seine in 1938 gewählte Ausreise nach Amerika ein Überlebender der Schoa, mit persönlichen Empfindungen seiner Briefe aus 1983 und 1985 zitiert: „Wie können sich 65 Millionen menschliche Wesen über Nacht in Bestien verwandeln? Wie kann eine Person so viel Macht ausüben und verursachen, dass eine ganze Nation ihr wie Schafe folgt? In Laufe seiner Korrespondenz hat Gutmann nicht nur auf die Täter hingewiesen und sie beim Namen genannt, er schrieb auch: „Eins steht aber fest: Bis 1941, dem Jahr als meine Eltern Wadersloh verließen, gab es viele, viele gute und anständige Wadersloher Bürger.“ Eine beachtliche Charakterisierung des Mannes, deren Familie so viel Leid in ihrer angestammten Heimat erfahren musste. Die vom Pädagogen und Heimatfreund Hans-Josef Kellner nach unzähligen Untersuchungen erstellte Abhandlung ist auch elf Jahre nach ihrer Veröffentlichung ein aufschlussreiches und lesenswertes Buch.

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