Eine Erinnerung von Hans Zaremba
Für viele der in den 1970er Jahren in die SPD eingetretenen Mitglieder war Willy Brandt die politische Identifikationsfigur schlechthin. Mit ihm, der am Mittwoch, 18. Dezember, 100 Jahre alt geworden wäre der am 8. Oktober 1992 in Unkel am Rhein verstorben ist, verbanden die vor vier Jahrzehnten in die Sozialdemokratie kommenden jungen Frauen und Männer die Erwartung auf innenpolitische Reformen und eine Öffnung der deutschen Politik zum Osten. Daran und an den Besuch des damaligen Bundeskanzlers in der heimischen Region im Frühjahr 1970 und die Visite des langjährigen SPD-Parteivorsitzenden in Lippstadt im Sommer 1976 erinnert SPD-Ortsvereinsvorsitzender Hans Zaremba mit diesem Beitrag.
Rückblick in das Jahr 1970
Fünf Tage vor seinem historischen Treffen mit dem DDR-Ministerpräsidenten Willi Stoph in Erfurt am Donnerstag, 19. März 1970, war der im Oktober 1969 vom Bundestag ins Amt gewählte Kanzler Willy Brandt zum ersten Mal in den zu jener Zeit noch bestehenden Kreis Lippstadt gekommen. Als er mit dem Bundestagsabgeordneten Engelbert Sander (+ 2004), SPD-Kreisvorsitzenden Lothar Reiter (+ 1982) und SPD-Landtagskandidaten Horst Marin die von der heimischen SPD für den Auftritt ihres bedeutenden Gastes bestimmte Volkshalle in Bad Westernkotten betrat, waren in ihr alle Sitz- und Stehplätze restlos vergeben und viele Menschen hatten keinen Einlass mehr in das Gebäude gefunden. Offensichtlich waren durch die Ereignisse um den nahenden ersten Gipfel der Regierungschefs aus Ost und West der 1949 entstandenen beiden deutschen Teilstaaten etliche Bürgerinnen und Bürger zusätzlich angelockt worden. Der Polizei blieb nichts anderes übrig, die Versammlungsstätte wegen Überfüllung und aus Sicherheitsgründen zu sperren. In seiner Rede im Kurort hob der spätere Friedensnobelpreisträger (1971) mit Blick auf seine Begegnung mit dem DDR-Regenten hervor: „Ich fahre mit allem guten Willen, aber ohne jede Illusion nach Erfurt.“ Unterdessen haben sich vom Treffen in Thüringen das Bild des Sozialdemokraten am Fenster des Erfurter Hotels und seine zurückhaltende Gestik eingeprägt. Die in der heutigen thüringischen Landeshauptstadt geführten Gespräche waren der Beginn der notwenigen Schritte hin zum langsamen Ende der DDR in der friedlichen Revolution von 1989.
Rückblick in das Jahr 1976
Sechs Jahre später nach der Kundgebung von Bad Westernkotten – am Samstag, 10. Juli 1976 – führte die Tour von Willy Brandt im Bundestagswahkampf nach Lippstadt und in den Kindergarten der Arbeiterwohlfahrt (AWO) in der Schlehenstraße. Der SPD-Parteichef war zwar nicht mehr Kanzler (von diesem Amt war er infolge der Bespitzelung durch einen Stasi-Agenten am 6. Mai 1974 zurückgetreten), aber immer noch ein Politiker mit hohem Ansehen im In- und Ausland. Überdies war er weiterhin ein Zugpferd der SPD, wovon neben dem inzwischen zum Amtsinhaber im Palais Schaumburg aufgestiegene Helmut Schmidt auch der Lippstädter Parlamentarier Engelbert Sander im Wahlkampf 1986 ohne Zweifel profitierte. Bei seiner Einkehr in der heute zum AWO-Familienzentrum formierten Tagesstätte wurde er im Sommer 1976 vom Kreisgeschäftsführer des Wohlfahrtsverbandes (dem später von 1994 bis 1997 amtierenden Bürgermeister) Klaus Helfmeier (+ 2012) empfangen. Der hohe Gast, der zuvor schon in vielen AWO-Einrichtungen war, erlebte in Lippstadt jedoch eine Premiere, da er nach eigenem Bekunden einen AWO-Kindergarten bis zum Juli 1976 noch nicht betreten hatte. Über den Austausch zum Engagement der AWO und einer Bewertung der Versorgung von Kindergärten in Nordrhein Westfalen hinaus sah sich Willy Brandt auch in den Räumen der Einrichtung im Lippstädter Südwesten um. Einige der Kinder bezogen den prominenten Mann in ein Brettspiel ein und als ein Junge dem Ex- Kanzler seinen Gipsarm für ein Autogramm entgegenstreckte, signierte er den Verband.
Rückblick in das Jahr 1972
Zwischen den zwei Abstechern an die Lippe bescherte Willy Brandt der SPD am 19. November 1972 das beste Wahlergebnis ihrer derweil 150jährigen Geschichte, als die von ihm so nachhaltig geprägte Partei mit 45,8 Prozent der Stimmen zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik stärkste Fraktion im Bonner Parlament wurde. Vorausgegangen war am 27. April 1972 im Bundestag das erste konstruktive Misstrauensvotum in der deutschen Nachkriegsgeschichte, als der CDU-Partei- und Fraktionsvorsitzende mit Wahlkreis im benachbarten Paderborn, Rainer Barzel, anstelle des SPD-Politikers zum Regierungschef werden wollte. Doch dieses Unterfangen endete für den Herausforderer mit einem Debakel und wurde zum Triumph des Amtsinhabers. Was folgte war ein bis dato nicht gekannter Wahlkampf, wo sich eine unendlich große Zahl von einflussreichen, aber auch völlig unbekannten Bürgerinnen und Bürgern für Willy Brandt engagierten. Eines der markantesten Zeichen der SPD-Kampagne im Herbst 1972 war die Blechplakette „Willy wählen“. Auffallend war auch die bei der Bundestagswahl 1972 erreichte Wahlbeteiligung von 91,1 Prozent, die in Deutschland bis auf lange Zeit ein einmaliges Resultat bleiben dürfte. Zugleich nahm durch die große Ausstrahlung von Willy Brandt die Mitgliederzahl der SPD in den 1970er Jahre rapide zu und kam in 1977 auf einen Spitzenwert von über einer Million. Dies spiegelte sich vor vier Jahrzehnten auch in den Aktivitäten der heimischen Sozialdemokraten mit dem von 1973 bis 1979 amtierenden SPD-Ortsvereinsvorsitzenden Karl-Heinz Brülle wider und wo mit den heute noch zum Teil in der SPD tätigen mit dem späteren Ratsherrn Wolfgang Schulte Steinberg als ihren Leiter die wohl wirksamste Arbeitsgemeinschaft der Jungsozialisten in der Geschichte der Lippstädter SPD bestand.