Hans Zaremba über den scheidenden Parlamentarier
Mit der heutigen Bundestagswahl werden viele markante Personen aus dem Berliner Parlament ausscheiden. Zu ihnen zählt auch der aus dem benachbarten Sauerland stammende frühere Vizekanzler und vormalige SPD-Bundesvorsitzende Franz Müntefering, der wie kaum ein anderer prominenter Politiker in den letzten vier Jahrzehnten zu Terminen an der Lippe weilte. Daran erinnert der Lippstädter SPD-Ortsvereinsvorsitzende Hans Zaremba mit diesem Beitrag.
Bundestagsabgeordneter
Die Zeit der Begegnungen der örtlichen Sozialdemokraten mit dem ursprünglich in Sundern im Hochsauerlandkreis als Kommunalpolitiker aktiven Franz Müntefering reicht bis in die Ära des heutigen Ratsmitglieds Karl-Heinz Brülle als Jungsozialist und in die Phase des Aufbruchs des SPD-Nachwuchs von einer als brav und angepassten Parteijugend hin zu einem linken politischen Verband. Die beiden Vorkämpfer für die Soziale Demokratie können auf eine über 40jährige Mitgliedschaft in ihrer Partei (der Sauerländer seit 1966, der Lippstädter ab 1969) zurückblicken. Der Bogen der Auftritte des 1940 im heute zu Arnsberg gehörenden Neheim-Hüsten geborenen SPD-Urgesteins in Lippstadt erstreckt sich vom Frühjahr 1976 bei seiner Kandidatur für den Bundestag im damaligen Wahlkreis Arnsberg-Soest, wozu auch Eickelborn zählte, bis in den März 2012, als er zum Forum der Friedrich-Ebert-Stiftung zur demographischen Entwicklung ins „Kasino“ in die Südstraße gekommen war. Dazwischen liegen unzählige Visiten des in Bremen 1991 zum ersten Mal in den SPD-Bundesvorstand gewählten Sozis in der größten Stadt im Kreisgebiet, insbesondere in der Zeit von 1976 bis 1978 bei etlichen öffentlichen Terminen in Lippstadt, wo er als Betreuer des damals verwaisten heimischen Bundestagswahlkreises die Interessen seiner Partei vertrat. Zudem war er auch immer wieder bei Veranstaltungen der Lippstädter SPD ein gern gesehener Referent, ob auf SPD-Stadtparteitagen oder in Mitgliederrunden der SPD-Ortsvereine im Stadtgebiet.
Landesminister
Als der damalige SPD-Unterbezirksvorsitzende im Hochsauerland im Sommer 1992 zum Nachfolger des legendären Chefs des SPD-Parteibezirks im Westlichen Westfalen, Hermann Heinemann (Dortmund), aufgestiegen war, führte einer der ersten Antrittsbesuche nach Lippstadt, wozu er im Stadtpalais vom ebenfalls aus Neheim-Hüsten stammenden Bürgermeister Franz Klocke (CDU) empfangen wurde. Wenige Wochen später wechselte der Sauerländer von der Bundespolitik auf die Landesebene und übernahm wiederum eine Funktion des Dortmunders, diesmal das Amt des Landesministers für Arbeit, Gesundheit und Soziales im Kabinett von Ministerpräsident Johannes Rau. In dieser Eigenschaft kam er im September 1994 nach Lippstadt, um den Landtagsabgeordneten Karl-Heinz Brülle bei seinem Engagement für den Forensik-Standort Eickelborn zu unterstützen.
Landesvorsitzender und Wahlkampfmanager
Doch die Ära als Landesminister war nur eine kurze Station im politischen Leben von Franz Müntefering, der auf dem Wiesbadener SPD-Bundesparteitag im November 1995 zum Bundesgeschäftsführer seiner Partei gewählt und mithin Leiter des 1998er Wahlkampfes mit der berühmten „Kampa“ in Bonn wurde. In diese Periode der Laufbahn von Franz Müntefering fällt auch seine Teilnahme am Jazz-Frühschoppen des Lippstädter SPD-Ortsvereins, den die Genossinnen und Genossen in der „Marktdeele“ zum 75jährigen Jubiläum ihrer Gliederung ausrichteten. Die Kampagne für die Bundestagswahl 1998 wurde mit dem Einzug von Gerhard Schröder ins Kanzleramt und dem erstmaligen Gewinn des Direktmandates für die SPD im heimischen Wahlkreis durch den Overhagener Eike Hovermann gekrönt und sie gilt bis in die Gegenwart zu den am besten organisierten Wahlkämpfen in der 150jährigen SPD-Historie.
Bundesminister
Aus dem erfolgreichen Wahlkampfmanager wurde im Oktober 1998 der Bundesminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen. Allerdings nur für ein knappes Jahr, weil im Herbst 1999 die Sozialdemokraten ihn wieder für ihre Parteiorganisation benötigten und im Dezember 1999 auf dem SPD-Bundesparteitag im Berliner Estrel-Hotel zum ersten Generalsekretär in der sozialdemokratischen Geschichte wählten. Überdies war er 1998 nach dem Rückzug von Johannes Rau vom SPD-Landesvorsitz auch Chef der NRW-SPD geworden, was er bis in den Herbst 2001 blieb. Der SPD-Generalsekretär und SPD-Landesvorsitzende Franz Müntefering war am 1. Mai 2001 der Hauptredner am Tag der Arbeit auf dem Lippstädter Rathausplatz. Dies zur großen Freude seiner örtlichen Parteifreunde, von denen etliche über lange Jahre einen engen Kontakt zum DGB pflegen. Unter ihnen befand sich unter anderem der im August 2006 verstorbene Gewerkschaftler und Sozialdemokrat Werner Franke, der von 1964 bis 1979 Mitglied des Stadtrates und von 1963 bis 1991 hauptamtlicher Sekretär der Industriegewerkschaft Metall in Lippstadt war. Als sich im Frühjahr 2004 der von 1998 bis 2005 amtierende Bundeskanzler Gerhard Schröder vom SPD-Chefsessel verabschiedete, wurde Franz Müntefering am 21. März 2004 in Berlin auf einem SPD-Sonderparteitag zum neuen Parteivorsitzenden gewählt. In dieser Funktion kam der von 2002 bis 2005 auch als Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion verantwortliche Vormann der deutschen Sozialdemokratie im August 2004 zur Unterstützung der lokalen SPD im Kommunalwahlkampf erneut nach Lippstadt. Ein Programmpunkt war die Besichtigung der Produktionsabläufe im Unternehmen „Rothe Erde“ in der Beckumer Straße in Lippstadt.
Vizekanzler und Parteivorsitzender
Mit der Bildung der großen Koalition nach der Bundestagswahl 2005 trat der Volksschüler und gelernte Industriekaufmann als Vizekanzler und Bundesminister für Arbeit und Soziales erneut in die Bundesregierung ein. Den Parteivorsitz hatte er im November 2005 an den Brandenburger Matthias Platzeck abgegeben. Ausgestattet mit den herausragenden Ämtern im Bundeskabinett half er im August 2007 die damalige Landratsbewerberin der SPD, Dr. Ulrike Gilhaus, im Straßenwahlkampf in der Lippstädter Fußgängerzone. Infolge der schweren Erkrankung seiner zweiten Ehefrau Ankepetra zog sich Franz Müntefering im November 2007 aus der Bundesregierung zurück, blieb aber als Bundestagsabgeordneter der Tagespolitik erhalten. Nach dem Tod seiner Gattin kehrte er auf die SPD-Brücke zurück und nahm nach dem Abschied von Kurt Beck vom SPD-Parteivorsitz zum zweiten Mal in der oberen Etage des Berliner Willy-Brandt-Hauses seinen Arbeitsplatz ein und widmete sich von diesem Zeitpunkt vorrangig der Vorbereitung der Bundestagswahlkampfes 2009. Nach der im September 2009 erfolgten Abwahl der SPD aus der Regierungsverantwortung übergab Franz Müntefering den Bundesvorsitz an den heutigen Parteichef Sigmar Gabriel. Mit 35 Jahren ist der Sauerländer in den Bundestag, der damals noch sein Domizil in Bonn hatte, nachgerückt und im Alter von 73 Jahren hat er nun in Berlin in einem Bürogebäude auf dem Boulevard „Unter den Linden“ seine Sachen in über 20 Umzugskartons verpackt, um sie in den nächsten Tagen in seine neue Wahlheimat Herne abzuholen. Dazu gehört auch seine alte Kofferschreibmaschine vom Typ Triumph Gabriele, auf der bis zuletzt Reden und Parteipapiere entstanden sind. Einen Computer oder ein Smartphone hat der Parteisoldat Franz Müntefering bis heute nicht. Er kommuniziert per Telefon und Fax. Das geht bekanntlich auch. Die ständige Erreichbarkeit hält er für problematisch: „Das richtige Augenmaß braucht Distanz und Zeit“, ist seine Devise. Ganz aus dem politischen Geschäft heraus ist er aber nicht. Denn seit dem 27. April 2013 ist er ehrenamtlicher Präsident des Arbeiter-Samariter-Bundes in Deutschland. Womöglich sehen ihn die Lippstädter in dieser neuen Funktion schon bald wieder in ihrer Stadt.