Ehemaliger Vizekanzler bezog in Lippstadt Position zur Demographie
Eigentlich könnte die Lippstädter Kommunalpolitik mit Blick auf die demographischen Veränderungen und den von ihr und der Verwaltung schon zum Ende der 1990er Jahre eingeleiteten Konsequenzen zum Umbruch der Bevölkerungszahlen verhalten aufatmen. Doch der SPD-Ortsvereinsvorsitzende Hans Zaremba plädierte in der von der Friedrich-Ebert-Stiftung im „Kasino“ ausgerichteten Veranstaltung „Wir werden weniger, älter, bunter“, auch im Stadthaus einen Beauftragten mit der Koordinierung der notwendigen Maßnahmen zu den vielfältigen Folgen des auch an der Lippe kaum stoppenden Bevölkerungsrückganges zu betrauen.
Offene Türen
Damit lief der örtliche Sozialdemokrat beim einstigen Vizekanzler Franz Müntefering offene Türen ein, der von der Bonner Stiftung als Referent für das Lippstädter Treffen zum Demographiewandel gewonnen wurde. Der SPD-Bundestagsabgeordnete, der auf viele Begegnungen seit Mitte der 1970er Jahre in Lippstadt zurückschauen kann und dem die Situation in der Region nicht fremd ist, setzt sich nach seinem Rückzug vom Parteivorsitz der SPD intensiv mit der alternden Gesellschaft auseinander. „Jede Stadt und Gemeinde muss eine gute Bildung und Erziehung der Kinder garantieren“, mahnte der aus dem benachbarten Hochsauerland stammende ehemalige Bundes- und Landesminister. „Sonst ziehen die jungen Paare weg.“ Nicht weniger wichtig seien Arbeitsplätze, die in maximal 45 bis 60 Minuten erreicht werden können.
Bundeshilfe für Kommunen
Nach einer vom Moderator der Zusammenkunft, Wolfgang Hellmich (Bad Sassendorf), vorgestellten Prognose zum Bevölkerungsrückgang im Kreisgebiet werde die Abnahme der Einwohnerzahl bis 2025 mit 3,4 Prozent etwas über den Landesdurchschnitt von 2,6 Punkten liegen. Für Müntefering ist dies nur der Anfang der Fahnenstange. „Denn Kinder, die heute nicht geboren werden, haben morgen auch keine Kinder.“ Oder mit Zahlen belegt: „Von den 1970 geborenen haben heute 32 Prozent keinen Nachwuchs. Und sie werden auch mit 80 keine Nachkommen haben.“ Dass die Städte und Gemeinden den Wandel und den Ausbau der Daseinsfürsorge vor Ort allein kaum gestalten können, steht für das Mitglied des Bundestages außer Frage: „Der Bund muss ihnen die notwendigen Strukturen und finanziellen Mittel geben, um mit diesen Aufgaben fertig zu werden.“
Eigene Potentiale nutzen
Der gelernte Industriekaufmann ging auch auf andere Aspekte, wie den Facharbeiterangel ein. Die Zahl der Erwerbstätigen im Alter von 20 bis 64 Jahren werde bis 2050 um mehr als 30 Prozent auf 35 Millionen sinken. Mit Zuwanderung alleine werde dieses Problem nicht zu lösen sein. „Wir müssen unsere eigenen Potentiale nutzen“, denkt der Arbeitsminister der großen Koalition vor allem an Frauen: „Deren Chancen, ins Erwerbsleben zu kommen, müssen verbessert werden.“
Absage an CSU-Elterngeld
Der Ausbau von Krippen-, Kita- und Ganztagsschulplätzen sei nicht nur wegen der Vereinbarkeit von Familie und Beruf wichtig, sondern auch auf Entwicklung der sozialen Kompetenz der Kinder. „Es ist wichtig, dass auch den Kleinsten früh bewusst wird, dass alle Menschen gleich viel wert sind.“ Das von der CSU befürwortete Elterngeld ginge daher in eine völlig falsche Richtung, weil es die Kinder aus bildungsschwachen Familien eindeutig benachteilige. Die demographischen Veränderungen brächten auch eine Menge von neuen Problemen mit sich. So würden in der Zukunft auch mehr Pflegekräfte benötigt, vor allem auch männliche. Um diese auch zu gewinnen, trat Müntefering unter dem Beifall der Zuhörer für einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn und für eine größere gesellschaftliche Akzeptanz dieses Berufstandes ein: „Deutschland ist eine Hochleistungsgesellschaft, also brauchen wir auch eine Hochlohngesellschaft.“
Weitere Veranstaltungen geplant
Diskutiert wurde auch die Rente mit 67, an der ihr Erfinder und Bundessozialminister von 2005 bis 2007 festhält. Einige Gewerkschaftler (Rainer Henkel) und auch Sozialdemokraten (Hans-Joachim Kühler) konnten sich mit dieser Position des langjährigen Mitgliedes der Industriegewerkschaft Metall nicht anfreunden. Doch der 72jährige hielt dagegen, Unvermeidliches nicht auf die lange Bank zu schieben: „Ich bitte einfach darum, dass wir ehrlich miteinander reden und nicht so tun, ob Rente mit 67 nicht ginge.“ Übereinstimmung zwischen dem versammelten Publikum in der von der Integra vorbildlich betriebenen Versammlungsstätte und dem prominenten Gast der Friedrich-Ebert-Stiftung bestand zur Leiharbeit. „Auch hier hat der Grundsatz, gleicher Lohn für gleiche Arbeit zu gelten“, war das Bekenntnis des zweimaligen SPD-Parteichefs. Müntefering räumte ein, dass die Reform der Leiharbeit zu Auswüchsen geführt habe, „die wir bekämpfen und beenden müssen“. Der große Zuspruch für den Abend im „Kasino“, der immerhin um die 150 Besucher aus fast allen Orten des Kreisgebietes nach Lippstadt lockte, ermuntere die Friedrich-Ebert-Stiftung, so ihr Repräsentant Robert Kirchner-Quehl, auch künftig in der größten Stadt im Landkreis zwischen Geseke und Wickede weitere interessante Veranstaltungen zu politischen und gesellschaftlichen Themen anzubieten.